„Der demokratische Staat kann nur weiter bestehen, wenn die Menschen teilnehmen am öffentlichen Leben und aktiv mitarbeiten, sonst stirbt er langsam ab. Unter allen Staatsformen fordert die Demokratie die grösste Hingabe, Interessennahme und Treue von den Bürgern. In vermehrtem Masse gelten natürlich die Bürgerpflichten gegenüber dem Staat für den Abgeordneten, denn er muss im Auftrag des Volkes das Staatsleben führen und überwachen und erscheint neben dem Staatsoberhaupt und Regierungschef als Repräsentant des Landes und Volkes im In- und Auslande. Der Abgeordnete soll seine Wahl als Auftrag betrachten, sich ständig und intensiv mit den Geschicken des Volkes und Staates zu befassen und zwar unter Hintansetzung persönlicher Gruppen- oder Parteiinteressen. Einzelinteressen dürfen nie zum Schaden der Allgemeinheit durchgesetzt werden. Der Abgeordnete möge sich bewusst sein, dass er nicht als Vertreter einer Partei, sondern des ganzen Landes und Volkes gewählt wird. [ … ]
Auch kann der Bürger, der die Abgeordneten zu seinen politischen Repräsentanten und Führern wählt, mit Recht erwarten, dass sie ihm gegenüber, falls notwendig und selbst wenn es unangenehm wäre, offen die Wahrheit aussprechen, ihn belehren und ermahnen und auch Beschlüsse setzen, die nicht den Gefühlen des Bürgers schmeicheln. Solche Reden und Beschlüsse sind wertvoller und nutzbringender für die Öffentlichkeit als allzu viele sich in Konkurrenz stehende Gunstbezeigungen und freundliche Worte zum Fenster hinaus. [ … ] “
S.D. Fürst Franz Josef II. von und zu Liechtenstein
Auszug aus der Thronrede anlässlich der Eröffnung des Landtages am 5. April 1955