NZZ: Liechtensteins Verfassung auf dem Prüfstand

Weshalb ein Monitoringverfahren des Europarats nötig ist
Von Michael Ferster, Schaan*

Mit der Volksabstimmung vom 16. März 2003 über die Verfassungsinitiative des Fürsten von Liechtenstein ist der Streit um die Stellung des Monarchen nicht beendet. Anfang nächster Woche wird der Monitoring-Ausschuss des Europarats darüber befinden, ob er der parlamentarischen Versammlung beantragen soll, dass die Verfassungswirklichkeit in Liechtenstein zu überwachen ist. Der Autor des folgenden Beitrags tritt für ein Monitoring ein, das er nicht nur wegen des Inhalts der neuen Verfassungsbestimmungen, sondern auch wegen der Art und Weise ihres Zustandekommens und der damit verbundenen fehlenden demokratischen Legitimation für wichtig erachtet.

Schon die Verfassung von 1921 hat dem Fürsten von Liechtenstein ausserordentlich viele Kompetenzen eingeräumt, ausgehend von der Grundnorm, dass die Staatsgewalt im Fürsten und im Volk verankert ist (Art. 2 der Landesverfassung). Nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der deutschen und der österreichisch-ungarischen Monarchie war die starke Stellung des Fürsten in einem Staat, der den ersten Weltkrieg vergleichsweise intakt überstanden hatte, nicht weiter erstaunlich.

Eine Auslegung der Verfassung 1921 nach dem heutigen Verständnis legt jedoch nahe, dass die umfassenden Sonderrechte des Monarchen, beispielsweise einem vom Landtag beschlossenen Gesetz die Zustimmung zu verweigern, so dass es nicht in Kraft tritt, in der Praxis nicht ausgeschöpft werden dürfen. Vielmehr soll der Fürst seine überschiessende Rechtsmacht aus demokratischen Gründen nicht anders als von der Regierung und den Volksvertretern gewollt gebrauchen dürfen. So gilt dies in allen anderen Monarchien Europas, die dem Europarat angehören. Und so war jedenfalls die Meinung des Europarats, als er Liechtenstein vor genau 25 Jahren als Mitglied aufnahm. Die liechtensteinische Verfassungswirklichkeit, insbesondere der letzten 11 Jahre, und die nunmehr in Kraft gesetzten neuen Verfassungsbestimmungen lehren aber etwas anderes.
Änderung der Kompetenzordnung

Während die Verfassung 1921 eine Reinterpretation gleichzeitig erlaubt und gefordert hat, sind die neuen Bestimmungen der Verfassung 2003 beim Wort zu nehmen. Umso deutlicher tritt hervor, wie fundamental sich die bestehende Kompetenzordnung geändert hat. Das Machtgefüge hat sich zulasten der drei Staatsgewalten und zugunsten eines Monarchen verschoben, der vom Volk nicht gewählt und weder ihm noch dem Landtag gegenüber rechenschaftspflichtig ist.

Der Fürst kann nun mit formal gutem Recht und neu ohne jeden Begründungsdruck nicht nur jedes Gesetz blockieren, sondern auch jede Verfassungsänderung, insbesondere jede Verfassungsänderung in Richtung einer repräsentativen Monarchie. Er kann die gesamte Regierung entlassen, selbst wenn diese das volle Vertrauen des Landtags geniesst, und ohne Mitwirkung des Landtags eine Übergangsregierung bestellen. Hält er nach eigenem Ermessen einen Notstand für gegeben (die Schwelle dafür ist nicht hoch, schon 1992 im Zusammenhang mit dem Termin für die EWR-Abstimmung ist der Fürst von einem Notstand ausgegangen), kann er sogar ausserhalb der Verfassung sechs Monate lang mit dem Notverordnungsrecht allein regieren.

Wichtige neue Rechte hat der Fürst nun auch gegenüber der dritten Staatsgewalt: So kann grundsätzlich kein Richter dem Landtag zur Wahl vorgeschlagen werden, der nicht das ausdrückliche Vertrauen des Fürsten geniesst oder von dessen Vertretern zur Wahl bestimmt wird. Masst sich der Fürst eine Kompetenz an, die ihm selbst nach Massgabe der weitgehenden neuen Bestimmungen nicht zusteht (beispielsweise den Landtag ohne Gegenzeichnung durch die Regierung aufzulösen), so kann darüber kein Gericht mehr entscheiden. Die Korrelate gegen diese Machtfülle sind äusserst dürftig: Dass das Volk nach einer Volksabstimmung neu einen Misstrauensantrag gegen den Fürsten einreichen kann, nützt wenig, kommt diesem doch trotz Volksabstimmung keinerlei bindende Wirkung zu. Ebenso wenig helfen die direktdemokratischen Rechte von Initiative und Referendum, denn sie finden bis auf zwei Ausnahmen (bei einer strittigen Richterwahl und nach mehrmaligen Volksabstimmungen im Fall der Einführung einer Republik) ihre Schranke immer im Willen des Monarchen.

Vergifteter Abstimmungssieg

Der Fürst hat seine neue Verfassung in der Volksabstimmung vom 16. März 2003 bei hoher Stimmbeteiligung mit 64,3% Ja-Stimmen durchgebracht. Dass es überhaupt zu einer Volksabstimmung und dann zu diesem Ausgang kommen konnte, ist indessen auf gravierendste Verfahrensmängel zurückzuführen. Diese Mängel sind so schwerwiegend, dass sie den Volksentscheid in seiner demokratischen Legitimation erheblich beeinträchtigen und geradezu als Folge eines plebiszitären Missbrauchs des Referendums erscheinen lassen. Verfassungsänderungen, die nicht vom Volk initiiert werden, bedürfen nämlich eines breiten Konsenses der im Landtag vertretenen politischen Kräfte, entweder eines einstimmigen Beschlusses aller anwesenden Abgeordneten oder zweier Beschlüsse mit mindestens je einer Dreiviertel-Mehrheit. Der Fürst und die Regierung haben dabei den Weg der Regierungsvorlage an den Landtag zu nehmen.

Sieht man, welche tiefen Gräben der Fürst mit seinen Verfassungsvorschlägen und der von ihm angeheizten Angstpropaganda im Land gerissen hat, so kann die Weisheit dieser Bestimmungen nicht genug gewürdigt werden. Als der Fürst erkannte, dass seine Verfassungsvorschläge, die richtigerweise als Regierungsvorlage im Landtag eingebracht worden waren, die nötige Zustimmung nicht erreichen würden, beschloss er, sein Revisionsvorhaben im Rahmen einer Volksinitiative neu zu lancieren. Dies hatte den nicht geringen – aber höchst undemokratischen – Vorteil, dass nunmehr am Text kein Komma mehr geändert werden konnte. Dennoch gehörten die Regierung und andere Exponenten der Mehrheitspartei zu den glühendsten Verfechtern der Fürsteninitiative.

Damit aber nicht genug: Der Fürst, der als einfacher Bürger die Volksinitiative lanciert hatte, nahm als oberstes Staatsorgan, noch dazu in Sachen seiner eigenen Initiative, in einem unerträglichen Mass auf die freie Willensbildung des Volkes Einfluss. So erklärte er ständig eindringlicher, dass das Fürstenhaus das Land verlasse, falls seine Initiative nicht angenommen würde. Von sehr vielen Stimmberechtigten wurde diese Drohung als leider nur allzu glaubhaft und als schwerwiegender Nachteil für die Zukunft des Landes und die Wohlfahrt seiner Bürger wahrgenommen. Die Drohung gipfelte dann in einem nur wenige Tage vor der Abstimmung verteilten Appell des Fürstenhauses an alle Haushalte, die Vorlage anzunehmen, damit die fürstliche Familie auch in Zukunft im Land leben könne. Liechtenstein hat zwar das Zusatzprotokoll I zur EMRK ratifiziert, das den Mitgliedstaaten vorschreibt, die freie Meinungsäusserung des Volkes bei Wahlen zu schützen. Dennoch hat es, handelnd durch sein oberstes Staatsorgan und mit ausdrücklicher Billigung seitens Regierung und Landtagsmehrheit, die sich daraus ergebenden Verpflichtungen in Bezug auf die Abstimmung vom 16. März 2003 in keiner Weise eingehalten.

Zum Verfahren vor dem Europarat

Der Europarat hat sich in bisher drei Berichten mit dem neuen Verfassungstext auseinandergesetzt. Es sind dies der Bericht der Venedig-Kommission vom 16. Dezember 2002, ein Berichtsentwurf von Lord Kilclooney vom 25. Januar 2003 im Auftrag des Politischen Ausschusses und der Bericht von zwei Berichterstattern des Monitoring-Ausschusses vom 15. September 2003. In allen drei Fällen ergab die Prüfung, dass die neue Verfassung Liechtensteins mit den Mindeststandards des Europarats bezüglich demokratischer politischer Institutionen nicht vereinbar ist. Auch wenn der Europarat bisher nur bei Neumitgliedern ein Monitoring beschliessen musste, ist angesichts der deutlichen Worte in den drei Berichten zu hoffen, dass zur Abwehr einer weiteren Beschädigung der demokratischen Errungenschaften Liechtensteins eine Überwachung der Verfassungslage angeordnet wird.

*Der Autor ist Rechtsanwalt und gibt in seinem Beitrag die Auffassung des Vorstandes des Vereins zur Stärkung der Volksrechte mit Sitz in Vaduz wieder, welchem er angehört.
Neue Zürcher Zeitung vom 22. November 2003, S. 18